Tourismus: Wenn man da ist, wo alle anderen auch schon sind

Die Welt ist groß und eigentlich sollte jeder irgendwo seinen Platz finden. Aber wenn es um die schönsten Wochen des Jahres geht, scheint es nur wenige Orte zu geben, wo man diese wertvolle Zeit verbringen möchte. Weil dort die Sehenswürdigkeiten sind, die man abhaken muss. Und weil man in Venedig, Rom, Paris oder London einfach einmal in seinem Leben gewesen sein muss. Das Problem ist nur: Alle wollen das gleiche. Zur selben Jahreszeit. Und es werden immer mehr.

Wer schon ein paar Jahre gelebt hat und seine bevorzugten Urlaubsregionen hat, zu den es ihn immer wieder hinzieht, hat es sicher schon mitbekommen: Es gibt immer mehr Menschen auf der Welt. Wo man früher stundenlang wandern konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen, wird man heute ständig von Radfahrern angepingt, die ganz bequem mit Elektrounterstützung die Natur erobern. Oder man begegnet hochgestylten Städtern in grellbunter Hightech-Outdoor-Kleidung mit dem Garmin in der Hand. Wo man früher einfach ein paar Tage vorher sein Lieblingshotel angerufen hat, muss man heute monatelang vorher buchen, um noch ein Zimmer zu bekommen. Wo man früher einfach angehalten und sein Auto abgestellt hat, ist heute ein riesiger geteerter Parkplatz mit einer Schranke davor, die nur Euro versteht.

Irgendwie verstehe ich nicht, weshalb Deutschland ein Problem mit dem Bevölkerungswachstum haben soll. Ich habe das Gefühl, dass immer mehr Menschen in diesem Land leben. Es gibt immer mehr Straßen, immer größere Einkaufszentren, immer mehr neue Stadtteile für immer mehr Menschen. Und immer mehr Urlauber, die ihre Freizeit irgendwo verbringen wollen, wo es anders ist als zu Hause.

Es gibt Kleinstädte, die in der Hochsaison das dreißigfache an Menschen beherbergen als dort überhaupt leben. Menschen die täglich essen, trinken und pinkeln wollen. Menschen, die zur Qual werden, wenn es zu viele sind, die sie sich auf Tuchfühlung durch die Altstadt drängeln. Wie neulich auf dem Mont Saint Michel, wo es fast unmöglich war, in einem Restaurant einen freien Platz zu ergattern. Oder vor dem Eiffelturm, dem Louvre oder Schloss Versailles, wo man stundenlang warten muss, um überhaupt bis zur Kasse zu kommen.

Vor kurzem habe ich mit meiner Liebsten auf der Rückreise mit dem Wohnmobil einen Zwischenstopp an der Loire eingelegt. Dort soll es unzählige berühmte Schlösser geben, hatte ich im Hinterkopf. Ein Ort, an dem man gewesen sein muss, auch wenn ich es noch nie war. Also bot es sich an, eine noch offene Stelle auf der Urlaubs-Checkliste abzuhaken.

Was soll ich sagen: die Schlösser gibt es und die Gegend ist auch recht schön (obwohl ich schönere Regionen in Frankreich kenne). Aber vor jedem Schloss ergab sich dasselbe Bild. Man wurde zu einem riesigen Parkplatz gelotst, der natürlich hinter einer Schranke lag und richtig Geld kostete. Man bewegte sich im Strom der anderen Besucher (die immer wieder ins Bild liefen, wenn man eigentlich nur das Schloss fotografieren wollte). Vor dem Eingang bildeten sich lange Warteschlangen (sodass wir auf eine Besichtigung verzichtet haben). Manchmal kostete sogar ein Spaziergang im Schlosspark Geld. Und die gesamte Peripherie des Schlosses war von Schnellrestaurants und Andenkenläden geprägt. Früher wohnten hier die Herrscher auf Kosten ihrer Untertanen. Heute wird die glorreiche Vergangenheit gewinnbringend vermarktet und alle dürfen einen Blick darauf werfen.

Dasselbe kann man in jeder sehenswerten Stadt, an jedem Baudenkmal und jedem Naturschauspiel erleben. Wo immer es Touristen gibt, findet man Parkplätze mit saftigen Parkgebühren. Es gibt mittelmäßige bis schlechte Gastronomie zu noblen Preisen. Es werden Eintrittsgebühren erhoben. Die Sehenswürdigkeit wird als Produkt vermarktet und der Einzelne ist Teil eines unendlichen Besucherstroms, den es auszunehmen gilt.

Ich habe eine zeitlang auf Fehmarn gewohnt. Das ist eine Insel in der Ostsee, die in den Sommermonaten auf das zigfache der eigentlichen Bevölkerung anwächst. Für die Einheimischen ist der Begriff „Tourie“ mittlerweile das Schimpfwort schlechthin. Touristen sind nur für die Wenigen gut, die von ihnen leben. Für alle Anderen sind sie einfach nur lästig. Sie parken ungeniert die ganze Stadt zu, blockieren mit ihrem gemächlichen Schlenderschritt jeden Gehweg und bummeln im Sightseeing-Tempo über die Landstraßen, sodass man es eigentlich nie eilig haben darf. Einheimische fahren nur ganz früh morgens in die Inselhauptstadt. Dann sitzen die Touries noch beim Frühstück und man bekommt zumindest einen Parkplatz. Auch gehen Einheimische nur in der Nebensaison an den Strand, weil es da sonst einfach zu voll ist.

Mittlerweile wohne ich in Travemünde. Das ist ein altes Seebad an der Trave-Mündung, das nicht nur von Touristen heimgesucht wird, sondern obendrein noch vorwiegend von Rentnern bevölkert wird, die sich hier zur Ruhe gesetzt haben (also Dauerurlaub machen). Sie alle haben eines: Zeit. Sie wandern ziellos die Promenade hin und her, hängen stundenlang im gemieteten Strandkorb ab und sind ansonsten eigentlich nur an ihren Grundbedürfnissen interessiert: Schlafen, Essen, Trinken, Pissen, Scheißen – und irgendwie die Zeit totschlagen.

Das Problem Tourismus fängt hier in Travemünde schon mit den Parkplätzen an. So viele Parkplätze kann eine Gemeinde gar nicht bauen, um dem Ansturm im Sommer gerecht zu werden. Und sie will es wohl auch nicht, denn es ist schließlich eine verlässliche Einnahmequelle, jeden „Falschparker“ mit 15 Euro abzuzocken. Also stockt man im Sommer die Zahl der Politessen auf und kassiert ab. Ähnlich läuft es im benachbarten Lübeck. Hier kommen rund ums Jahr ganze Busladungen an Touristen an. Im Sommer wollen sie die alte Hansestadt besichtigen. Im Winter werden sie vom Weihnachtsmarkt angezogen. Die meisten sind nur für ein paar Stunden da und fahren dann weiter zur nächsten Attraktion. Einige bleiben auch über Nacht und bevölkern abends die mittelmäßige Gastronomie der Stadt.

Das ist in Köln nicht anders, oder in Heidelberg, in Freiburg, Rothenburg oder Nürnberg. Wo immer es Vergangenheit zu besichtigen gibt, tauchen Touristen in Trauben auf. Ihre Digitalkameras lichten millionenfach dieselben Motive ab. Ihr Antrieb besteht darin, da gewesen zu sein, wo alle anderen auch schon waren und das gesehen zu haben, was „man“ einfach gesehen haben muss.

Ich habe früher unter anderem Prospekttexte für Reisebus-Unternehmen geschrieben. Da ist mir erst so richtig deutlich geworden, was Tourismus eigentlich bedeutet. Man pfercht möglichst viele Leute in ein Verkehrsmittel, fährt damit in eine touristisch interessante Region und klappert dort systematisch alle Sehenswürdigkeiten ab. Ein Wasserfall, ein altes Städtchen, eine alte Burg, ein malerischer See – was immer gerade da ist. Das Ganze wird genau getaktet und an jedem Zielort steht sofort ein Fremdenführer bereit, der sich der Meute annimmt und ihr in aller Kürze alles erklärt, was es zu sagen gibt. Eine Reise wie am Fließband. Ideal für Menschen, die noch nie etwas selbst in die Hand genommen und eigene Wege gegangen sind.

Das Problem ist eben, dass sich der Mensch selbst im Weg ist, wenn er in größerer Zahl auftritt. Und dass es immer mehr Menschen gibt, die genügend Wohlstand besitzen, um zu Reisen. Denn Reisen ist ein Stück Freiheit. Reisen bildet. Wer viel gereist ist, hat auch genügend Material für den Smalltalk und kann andere beeindrucken.