Ernährung: Von Missionaren und Genießern

Früher ging man in den Supermarkt, hat den Einkaufswagen vollgepackt und das Überleben am Wochenende war gesichert. Gemüse holte man vom Markt, wenn man sich die Zeit dafür nehmen wollte. Das Brot gabs beim Bäcker und für alles Tierische war der Metzger zuständig. Einige wenige lebten vegetarisch. Aber so dünn, blass und kraftlos wie die wollte man eigentlich nicht sein. Von der Hardcore-Variante namens Vegan hatte noch niemand etwas gehört. Doch die Einkaufswelt ist richtig kompliziert geworden.

Ganz ehrlich, als langjähriger Ehemann war ich viele Jahre meines Lebens so gut wie nie im Supermarkt. Und wenn, dann hat mir meine Liebste einen Zettel mitgegeben und den habe ich schlicht und einfach abgearbeitet. Das änderte sich radikal, als wir uns trennten und ich plötzlich selbst für mich sorgen musste. Von Pizzas und Fertiggerichten wollte ich mich nicht ernähren, also lernte ich kochen und schrieb meine Einkaufszettel selbst. Heute beschreibe ich mich als Hobbykoch und habe durchaus Spaß in der Küche.

Ich habe mich sogar für ein Steak-Seminar angemeldet, das mein Metzger alljährlich veranstaltet. Ja, hier gibt es noch einen richtigen Metzger, der sich gegen die Supermarkt-Massenware behauptet. Und ja, ich esse Fleisch.

Es war meine neue Lebenspartnerin (mit der ich jetzt schon ein Jahrzehnt zusammenlebe), die mich darauf aufmerksam machte, dass es auf jeder Packung im Supermarkt-Regal ganz klein gedruckte Texte gab, die durchaus aufschlussreich sind. Seitdem frage ich mich, weshalb meine selbst gemachte Marmelade nur drei Zutaten enthält, während in der bunten Vielfalt im Regal ein ganzer Chemiebaukasten steckt. Na ja, man kommt nicht ganz ohne aus, aber wenn es geht, vermeide ich mittlerweile Industrieware, bei der ich den Namen der Inhaltsstoffe noch nicht einmal buchstabieren kann.

Zugegeben, mein Früchtequark hat nicht dieselbe perfekte Konsistenz und Farbgebung wie der aus dem Regal. Aber dafür weiß ich, dass da nur Früchte, Honig und Joghurt drin sind.

Im anderen Fall würde ich ein Produkt zu mir nehmen, das sich ein Lebensmittelchemiker ausgedacht hat. Neuerdings nennt man die auch Food Designer, was schon darauf hindeutet, dass ihr Arbeitsergebnis mit einem natürlichen Produkt nur wenig zu tun hat. Das Prinzip ist ja auch immer das gleiche: Nehme so wenig wie möglich teure Zutaten und sorge dafür, dass der Konsument es nicht merkt. Also stecken im Früchtequark mit Kirschen so gut wie keine Kirschen drin. Dafür ist er aber knallrot und schmeckt so penetrant nach Kirschen, dass man sich fragt, wo eigentlich der Quark versteckt ist. Auf der Rückseite kann man mithilfe einer Lupe das Geheimnis lüften: „naturidentische Aromastoffe“ steht da und Zitronensäure (nicht zu verwechseln mit Zitrone) ist auch immer mit im Spiel. Mit anderen Worten: die vorhandenen Früchte sind eigentlich nur Alibi. Der Geschmack kommt aus dem Labor.

Aber, ehrlich gesagt, so ganz ohne Küchenchemie komme auch ich nicht aus. Ich habe einfach keine Lust, erst einmal stundenlang Fleisch zu kochen (von der Geruchsbelästigung ganz abgesehen), nur weil ich einen richtigen ungarischen Gulasch machen will. Also greife ich zu einem geleeartigen Ersatzprodukt aus der Plastikkapsel, in dem angeblich keine künstlichen Geschmacksverstärker stecken. Auch mein Risotto entsteht meist mithilfe einer Gemüsebrühe aus der Industrieküche. Mein Zeitbudget ist eben nicht unendlich.

Was mich allerdings noch nie interessiert hat, sind die Nährwert-Angaben auf der Packung. Ich will nämlich kein kalorienarmes Mittagessen, sondern eines, das mir schmeckt. Und da steckt meist auch Fett drin, das ja manche Menschen als das Böse schlechthin bezeichnen. Aus demselben Grund esse ich auch grundsätzlich keinen Magerjoghurt, weil der einfach nur gepflegt nach nichts schmeckt. Und ich nehme keinen Käse mit nur 10% Fett. Der hat nämlich die Konsistenz von Gummi und nach Käse schmeckt er auch nicht. Das heißt, alle Produkte mit dem Label Light kommen mir nicht ins Haus. Auch hier grüßt der Food Designer, der die Aufgabe hatte, mit dem Restbestand an Natur ein Produkt zu zimmern, das zumindest noch so tut, als wäre es ein Nahrungsmittel.

Ich esse ja auch Butter und würde nie, nie, niemals einen Becher Margarine anfassen.

Noch weniger interessieren mich die zahlreichen Bio- und sonstigen Sigel, die heute praktisch jede Verpackung dekorieren. Hier meinen irgendwelche Ernährungswissenschaftler, mir vorschreiben zu können, was ich als gesund einzustufen habe und was nicht. Ich weiß, dass Pommes weniger bekömmlich sind als Pellkartoffeln. Aber sie schmecken einfach besser und da ich sie nicht jeden Tag esse, werde ich es vermutlich überleben. Ich weiß auch, dass Cola ein reines Kunstgetränk ist und dass Limonade vor allem aus Wasser, Zucker und Farbstoff besteht. Da trinke ich lieber einen guten Wein, einen Cidre, ein Bier vom Fass oder zur Not auch einfach nur Wasser.

Wobei ich Essen noch immer als ein Stück Lebensgenuss ansehe und diesen so oft wie möglich zelebriere. Meist nur am Wochenende, weil da meine Liebste zu Besuch ist und ich mir Zeit zum Kochen nehmen kann. Das beginnt dann schon bei der Suche nach dem Menü. Ich habe dafür mittlerweile eine Datenbank, in der alle Gerichte landen, die mir irgendwo über den Weg laufen. Nicht wenige davon stammen von Fernsehköchen, denen ich liebend gerne bei ihrem Handwerk zusehe. Meine Ex konnte hervorragend kochen, aber leider reden wir nicht mehr miteinander, sodass sie als Informationsquelle wegfällt. Meine Jetzige entwickelt in dieser Hinsicht leider wenig Ambitionen, aber das hat den Vorteil, dass mir in der Küche niemand dazwischenredet.

Vegetarier, Veganer und Leute, die keinen Alkohol trinken beäuge ich eher mit Misstrauen. Mit einer Frau, die Essen nicht genießen kann, würde ich mich nie einlassen. Die wird sich auch im Bett nicht als der große Genuss herausstellen. Was eine Aussage ist, die durchaus auf einschlägigen Erfahrungen beruht.

Ich möchte einer Frau über den Tisch hinweg erwartungsvoll in die Augen sehen können, während mein Gaumen noch mit den fleischlichen Genüssen beschäftigt ist. Ich möchte auch nicht zusehen müssen, wie sie lustlos in ihrem Salat herumstochert, während ich mich über das Iberia Steak freue, das genau auf den Punkt gegart ist. Und wenn ich ins Café gehe, dann suche ich mir eine dieser leider aussterbenden Lokalitäten aus, in denen es noch richtigen Kuchen gibt. Es ist einfach frustrierend, wenn sich eine Frau vor einem Stück Sahnetorte geradezu ekelt, während sie eine kalorienfreie Tablette Süßstoff in ihren Kaffee wirft.

Die einzige Veganerin, mit der ich jemals zu tun hatte, wollte mich mit geradezu missionarischem Eifer davon überzeugen, dass ihre und nur ihre Lebensweise die richtige sei. Sie sah zwar ganz gut aus und ich hab mich ihrem Anblick nicht wirklich entziehen können. Aber irgendwie stellte sich alles an ihr als blass und leidenschaftslos heraus. Nur wenn es darum ging, die Welt zu retten, konnte sie zu voller Form auffahren. Aber das war mir auf Dauer zu anstrengend. Vor allem, weil Missionare für die Sichtweise Andersgläubiger nur selten zugänglich sind.

Ich habe schon Weinseminare besucht, um meinen Geschmacksnerven einen ergänzenden Wissenshintergrund zu geben. Auch die Whisky-Seminare, die ein Kenner hier in der Gegend anbietet, haben bei mir gesteigertes Interesse ausgelöst (und meinen Giftschrank mit alten Single Malts gefüllt). Als nächstes steht, wie gesagt, ein Steak-Seminar an. Dazu hat mich mein Metzger eingeladen, der mir immer wertvolle Tipps mit auf den Weg gibt. Ich will endlich wissen, wozu meine gusseiserne Creuset-Pfanne wirklich gut ist, was ein Rib Eye von einem Filet unterscheidet und wie man zielsicher zu einem auf den Punkt gegarten Steak kommt.

Das Schöne ist, dass man bei solchen Seminaren auf Leute trifft, deren Gesellschaft einfach Spaß macht. Weinliebhaber, die einen gekonnt ausgebauten Roten andächtig im Glas schwenken und sich nur noch für das obere Regal im Weingeschäft interessieren. Whisky-Kenner, die einen simplen Blended keines Blickes würdigen und stundenlang über irgendwelche subtile Geschmacksnoten philosophieren können, die sie in einem Ardbeg ausgemacht haben wollen. Genießer, die mit offenen Sinnen durchs Leben gehen und am Ende nicht nur alt geworden sind, sondern auf ein erlebenswertes Leben zurückblicken können.

Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass dazu Menschen zählen, die ihr Leben lang nur Möhren gekaut und Wasser getrunken haben. Aber ich kann mich natürlich auch täuschen.