Vom Vorteil, Zeit für sich selbst zu haben

Ich stamme noch aus der Generation, in der man ganz selbstverständlich ans Heiraten dachte, wenn die große Liebe im Spiel war. Und da meine erste ganz große Liebe aus fernen Landen kam und wir es richtig ernst meinten, bin ich schon früh zu Hause ausgezogen und wurde mit 21 Jahren Ehemann. Danach war gut 30 Jahre lang Leben zu Zweit angesagt.

Einsamkeit habe ich daher nie gekannt. Bis, ja bis sich herausstellte, dass aus dem „bis dass der Tod euch scheidet“ wohl nichts werden wird und ich wieder single war.

Dass ich fürs Alleinsein wohl nicht geschaffen war, wurde mir recht schnell klar. Also meldete ich mich gleich bei mehreren Dating-Portalen an und stürzte mich ins Abenteuer. Es folgten zwei erlebnisreiche Jahre, in denen ich wohl an die hundert Frauen kennenlernte. Die einen nur virtuell. Die anderen im wirklichen Leben. Mit wie vielen ich mich Samstag morgens beim Brunch, zwischendurch in irgend einem Café oder abends zum Dinner getroffen habe, weiß ich heute nicht mehr.

Was ich jedoch schnell merkte, war die Tatsache, dass mein Frauenbild offensichtlich schon ziemlich angestaubt war. Ich ging noch immer davon aus, dass sich jede Frau in unserer Zeit der unverbindlichen Dates doch freuen müsste, endlich auf einen Mann zu stoßen, der es „ernst“ meinte. Einer, der nicht nur eine neue Liebeserfahrung, sondern ganz solide die Frau für das weitere Leben suchte. Doch die Realität hatte mich schnell eingeholt.

Die meisten suchten nämlich schlicht und einfach den Mann zum Vorzeigen. Einen, der ihnen ein Leben bescheren würde, dass sie sich als kleine Angestellte nie leisten könnten. Einer, um den man sie beneiden würde. Einen Millionär eigentlich, der die erwarteten Wohlstandsymbole vorweisen konnte. Der war ich natürlich nicht, denn weder fuhr ich den erwarteten BMW noch konnte man mit mir zum Weekend nach Sylt fahren. Und schicke Anzüge mit dem richtigen Label trug ich damals auch nicht. Ich zählte eben nicht zu den Großstadtneurotikern, deren Lebensinhalt darin besteht, all die anderen ihrer Art zu beeindrucken.

Die Folge davon war, dass sich die Suche hinzog. Wenn man schon die Fünfzig überschritten hat, ist es eben nicht mehr ganz so einfach, ein Weib zu finden, das nicht nur die Sinne anspricht, sondern auch auf der gleichen Wellenlänge schwingt. Eine Frau über 40 ist eben schon vom Leben geprägt, trägt nicht selten deutliche Narben auf der Seele mit sich herum und glaubt längst nicht mehr an die große Liebe.

Am Ende hatte ich dann die Nase voll.

Nur eine Anfrage beantwortete ich noch. Einfach nur aus Höflichkeit. Und vielleicht auch, weil mir das Gesicht gefiel, dass mich da durch die Pixel hindurch anlächelte. Aber es sollte die letzte sein, bevor ich das Thema endgültig ad acta legen wollte.

Wir telefonierten, trafen uns ganz unverbindlich - und sind noch heute zusammen.

Nur das mit der Frau fürs Leben – oder zumindest die verbleibenden Jahrzehnte davon – hat sich doch irgendwie anders ergeben als ich mir das eigentlich vorgestellt hatte. Meine virtuelle Bekanntschaft ist zwar heute die Frau, die ich gerne an meiner Seite weiß. Doch wir sind nie zusammengezogen. Wir sehen uns zwar jedes Wochenende und zwischendurch so oft es sich ergibt. Doch dazwischen lebt jeder sein eigenes Leben.

Etwas, was mich lange frustriert hat. Und das ich mittlerweile richtig schätzen gelernt habe. Ja, ich liebe sie. Doch ich liebe es auch, den größeren Teil der Woche ganz für mich allein zu haben. Ich schätze es, wenn ich einfach so lange aufbleiben kann, bis ich ein weiteres Kapitel in einem meiner Bücher zu Ende geschrieben habe. Ich genieße es, heute in aller Frühe aufzustehen und morgen bis um zehn auszuschlafen. Ich finde es ungeheuer entspannend, den Kopf frei zu haben, um mich mit einem meiner Projekte zu beschäftigen, ohne dabei von Alltäglichkeiten abgelenkt zu werden. Mir gefällt es, wenn der Tag mir gehört, ohne dass ich mich mit irgend jemand abstimmen muss.

Ja, ich bestehe mittlerweile sogar darauf.

Denn Beziehung ist gut und wichtig. Nähe ist schön. Anregende Gespräche tun gut. Gemeinsame Unternehmungen beleben. Und ein Leben ganz ohne Sex möchte ich mir auch nicht vorstellen. Doch die Zeit ganz für mich allein ist mir mittlerweile wichtig und heilig. Die Tage der Stille fühlen sich nicht etwa nach Einsamkeit an, sondern werden von einem Denker, Schreiber und Kommunikator wie mich als unerlässlich empfunden.

Meine Tage ganz für mich allein sind mittlerweile für mich ein Synonym für den geistigen und körperlichen Freiraum geworden, den ich mir immer nehmen will. Denn neue Ideen entstehen nur in Augenblicken der inneren Ruhe. Gedanken brauchen Zeit, um sich entfalten zu können. Überlegungen verlangen nach Konzentration nicht nur für Minuten, sondern für Stunden und manchmal auch Tage.

Manche Leute finden diese innere Ruhe nur im Urlaub – dann wenn all die täglichen Routinen weg sind, wenn nicht ständig Fernsehen und Radio ins Leben quatschen, wenn man einfach nur daliegen und in sich hinein denken kann, wenn der ständige Zeitdruck abgefallen ist und das eigene Ich im Mittelpunkt steht.

Manche Menschen fühlen sich einsam, wenn es keinen Partner gibt, von dem man ständig umgeben ist. Viele empfinden Langeweile, wenn der Kalender leer ist, keine Termine den Tag bestimmen, niemand Forderungen stellt und nichts dringend erledigt werden muss. Und so mancher Arbeitslose taucht ins Selbstmitleid ab, weil er nicht mehr gebraucht wird und seine Tage sinnlos zu sein scheinen. Und dann gibt es noch diejenigen, die so auf Erfolg und Geldverdienen gepolt sind, dass sie meinen, einfach keine Zeit zu haben, um loszulassen, nachzudenken, abzuschalten.

Auch ich habe die Phase des immer schneller, immer mehr hinter mir. Ich habe gelernt, loszulassen und neu anzufangen. Ich habe irgendwann gemerkt, dass es nicht darauf ankommt, was andere denken und was alle für gut halten, sondern was mir guttut. Und ich freue mich, in einem Teil der Welt zu leben, in dem nicht alles von religiösen und gesellschaftlichen Regeln bestimmt wird. Ein Land, in dem es egal ist, ob zwei Menschen einen Ring am Finger tragen, wenn sie zusammenleben. Und in dem sie sich die Freiheit nehmen können, sich als Paar zu verstehen, ohne jeden Augenblick des Lebens miteinander verbringen zu müssen.

Denn nur wer den Abstand kennt, wird die Nähe zu schätzen wissen. Nur wer sich trennt, wird sich auf ein Wiedersehen freuen können. Nur wer während der Woche Zeit für das eigene Ich hatte, wird sich am Wochenende gerne die Zeit für das Wir und Uns nehmen.