„Die könnte deine Tochter sein“

Wenn er Mann erst mal die fünfzig überschritten hat, kommt er irgendwann, dieser Satz. Meist kommt er aus weiblichem Mund und wird mit einem Unterton der Entrüstung ausgesprochen. Ja, dieses junge Ding, dem du gerade nachgesehen hast, könnte rein rechnerisch gesehen tatsächlich deine Tochter sein. Ist sie aber nicht und das ist der entscheidende Unterschied.

Das erste Mal begegnete mir der Vorwurf in einem Dating-Portal. Das war damals, als ich gerade geschieden und auf der Pirsch war, um eine neue Begleiterin für mein weiteres Leben zu finden. Ich war natürlich fürchterlich neugierig, was es mit der Frauenwelt da draußen auf sich hat. Immerhin hatte ich mich ein Vierteljahrhundert lang total aus der Datingszene ausgeklinkt. Außerdem machte ich die ersten Schritte in einem für mich völlig neuen Medium. Das Internet und damit auch Dating-Portale gab es nämlich zu der Zeit, als ich meine erste große Liebe kennengelernt und auch gleich geheiratet hatte, schlicht und einfach noch nicht.

Neugierig wie ich war, klickte ich mich erregt durch das Angebot paarungswilliger Frauen, machte erste Erfahrungen und zog meine ersten Schlüsse. Experimentierfreudig wie ich war, probierte ich auch die unterschiedlichsten Variationen aus. So gab ich zum Beispiel in meinem Suchprofil an, dass ich an einem jungen Wesen – so zwischen 20 und 26 – interessiert war, das möglichst schlank und möglichst blond sein sollte.

Zu meinem Erstaunen meldeten sich tatsächlich ein paar durchaus ansehnliche und im Vergleich zu mir geradezu unverschämt junge Frauen, die angeblich großes Interesse an meiner Person zum Ausdruck brachten. Vielleicht war es mein Profilfoto, das ein befreundeter Fotograf nach bestem Können auf jung und attraktiv getrimmt hatte. Vielleicht machte mich auch mein Beruf interessant, unter dessen Bezeichnung sich vermutlich die Wenigsten etwas vorstellen konnten. Vielleicht waren es auch Studentinnen, die einen Sugar Daddy suchten, der ihnen das Studium finanziert. Ich habe es nie erfahren, denn irgendwie erschienen mir die Motive im Hintergrund doch etwas dubios und ich habe es nie zu einem Date kommen lassen. Vielleicht hatte ich auch einfach nur ungute Gefühle, denn meine Tochter war zu der Zeit genau im selben Alter.

Erinnern kann ich mich an die Nachricht einer Fünfzigjährigen, die sich erbost darüber äußerte, dass ein Mann, der bereits die Fünfzig überschritten hatte, an „jungen Mädchen“ interessiert sei, die noch nicht mal halb so alt waren, wie er selbst. Ich solle mich schämen, meinte sie, den „die könnten schließlich deine Töchter sein“.

Ja, das könnten sie. Theoretisch zumindest. Praktisch aber nicht, denn meine bisherigen Erfahrungen mit den Frauen beschränkten sich auf eine Einzige, die ich, wie gesagt, bereits in jungen Jahren geheiratet hatte. Seitensprünge hatte es in dieser Zeit keine gegeben, also bestand auch keine Gefahr, dass ich in der Datingwelt tatsächlich auf meine Tochter stoßen könnte. Ein „könnte“ war also ausgeschlossen. Und die rein rechnerische, theoretische Möglichkeit war mir eigentlich zu abstrakt, um ernsthaft darüber nachzudenken. Aber Frauen, die ihre attraktive Phase schon hinter sich haben, reagieren eben allergisch, wenn sie merken, dass Männern in ihrem Alter noch immer die Welt offensteht, während ihnen die Fälle längst davon geschwommen sind.

Denn ganz unter uns gesagt, ein Mann in den Fünfzigern steht mitten in der Blüte seines Lebens und wenn er keinen exzessiven Lebenswandel geführt und damit keinen körperlichen Raubbau betrieben hat, steht er durchaus noch attraktiv da und ist auch für Frauen interessant, die vielleicht ein Jahrzehnt jünger sind, als er selbst. Oder zwei. Oder drei. Denn die Attraktivität der Frau ist zeitlich eng begrenzt. Die des Mannes hingegen kann bis weit über die sechzig hinaus bestehen bleiben.

Das war auch mir bewusst, denn außerhalb der digitalen Welt tat ich genau das, was alle Männer taten, ganz gleich, ob sie vierzig, fünfzig oder sechzig sind: Ich sah Frauen nach, die auch meine Töchter sein könnten. Selbst die Teenies aus dem Gymnasium nebenan zogen magisch meine Blicke an. Warum auch nicht? Sie waren jung. Sie waren hübsch. Sie hatten schöne, knackige Hintern und feste Brüste. Sie waren weiblich und damit genau das, an dem männliche Augen gerne hängen bleiben.

Eine Fünfzigjährige muss von der Natur schon ganz besonders bevorzugt sein, wenn sie noch Männerblicke auf sich zieht. Solche Frauen gibt es natürlich, aber sie sind eine absolute Rarität und nur selten single und damit paarungsbereit.

Eine von dieser Kategorie hat mir schließlich und nach dreijähriger vergeblicher Suche die Online-Datingwelt ins Leben gespült. Sie stammte aus Russland und ich habe sie auf höchstens vierzig geschätzt. Allerdings habe ich sie nie nach ihrem Alter gefragt, denn Alter war für mich eigentlich nie ein besonders wichtiges Kriterium. Entsprechend überrascht war ich, als wir uns wenig später zu ihrem 53. Geburtstag im besten Restaurant der Stadt gegenübersaßen. Man kann eben gründlich danebenliegen, wenn man das Aussehen einer Frau mit ihrem Alter in Verbindung bringen will.

Wir waren gut zehn Jahre ein Paar. Unsere Interessen und Lebensweisen waren jedoch sehr unterschiedlich, was wohl der Grund dafür war, dass wir nie zusammengezogen sind. Wir blieben eine Freizeitbeziehung, verbrachten gemeinsam die Wochenenden, gingen ins Konzert und ins Theater und fuhren gemeinsam in den Urlaub. Manchmal rieben wir uns kräftig aneinander, aber irgendeine unbekannte Kraft hielt uns trotzdem zusammen.

Doch jede Phase im Leben klingt einmal ab und jede Beziehung findet irgendwann ein Ende. Womit wir zum eigentlichen Thema zurückkehren.

Der neue Stern an meinem Beziehungshimmel trat in Form einer ziemlich langen Online-Diskussion in mein Leben. Ich war ihr bei Instagram begegnet und wir haben uns lange und ausführlich über ein gemeinsames Lebensthema unterhalten. Der Dialog fand in Englisch statt, denn das war die Sprache, auf die wir uns einigen konnten. Es waren recht tiefe Gespräche über das Leben an sich und die Beziehung zwischen Mann und Frau im Besonderen. Ich ging daher von einer Frau aus, die mindestens schon im fünften Lebensjahrzehnt steckte. Entsprechend überrascht war ich, als ich die Wahrheit erfuhr. Sie hatte noch nicht einmal das dritte Jahrzehnt abgeschlossen und dennoch konnten wir uns wie Gleichaltrige und vor allem Gleichgesinnte unterhalten.

Ich hatte es also tatsächlich mit einer Frau zu tun, die theoretisch auch meine Tochter sein könnte. Aber irgendwie schien das weder für Sie noch für mich von Bedeutung zu sein. Wir verstanden uns einfach. Wir kommunizierten jeden Tag miteinander, tauschten uns aus, erzählten uns gegenseitig, wie wir den Tag verbracht hatten, und diskutierten über alles, was Mann und Frau so bewegt.

Dass wir uns treffen mussten, schien irgendwann ausgemacht zu sein, auch wenn wir nie konkret darüber geredet hatten. Die geistige und emotionale Nähe zwischen uns überbrückte jede Entfernung, aber die Wirklichkeit verlangte nach einem Flugzeug, um die Distanz zu überbrücken. Sie kam eigentlich nur, um mich zu besuchen. Doch sie blieb auf Dauer. Ohne darüber nachzudenken, denn es schien das normalste Ding auf Erden zu sein.

„Die könnte deine Tochter sein“ war schon immer ein recht dummes Argument. Wenn zwei Menschen davon überzeugt sind, zusammenzugehören, dann ist das eben so. Dann muss man das als Außenstehender nicht beurteilen, denn nur die Beiden wissen, was sie verbindet und warum es sich richtig anfühlt.