Selbstorganisation: Kreatives Chaos oder Ordnung schaffen?
Vor Jahrzehnten hieß es „Simplify your Life“ und ein Buch war in aller Munde. Heute lautet der Titel „Aufräumen mit Marie Kondo“ und eine Japanerin ist der neue Lifestyle-Guru. Es geht darum, unnützen Ballast abzuwerfen und das eigene Leben zu entrümpeln. Nicht nur auf dem Schreibtisch, sondern vor allem in den Schränken und Schubladen. Und natürlich im Keller. Für manche Leute ist das die Weisheit schlechthin. Andere sehen keinen Grund, an dem etwas zu ändern, was sie „kreatives Chaos“ nennen. Wer hat Recht?
Unsere Gesellschaft ist voll auf Effizienz getrimmt. Alles wird rationalisiert, verschlankt, vereinfacht, optimiert. Eine Entwicklung, die irgendwann in den 80er Jahren begann und ganze Industriezweige umgekrempelt hat. Seitdem redet jeder von Lean Management und Unternehmen testen aus, wie viele Mitarbeiter sie entlassen könne, bevor alles kollabiert. In der Produktion haben sich vor allen die Autobauer hervorgetan. Wo früher einfach bestellt und geliefert wurde, herrschen heute Begriffe wie just in time und just in sequence. Der LKW muss minutengenau an der Rampe stehen, sonst kommt die Produktion ins Stocken. Die Sitze müssen genau in den Farben auf dem Laster stehen, wie sie später eingebaut werden. Besser noch der Zulieferer sitzt gleich nebenan und führt seine Produkte direkt der Montagelinie zu. Keine unnützen Handgriffe, keine Zeitverschwendung, keine Minute zu viel.
Was Tag für Tag den Arbeitsalltag bestimmt, hält natürlich früher oder später auch zu Hause Einzug. Wenn man im Betrieb ohne Lager auskommt, kann man zu Hause auch darauf verzichten. Also tippt man ein Stichwort in die Shopping-App, wenn die Butter allmählich ausgeht, das Nutella-Glas fast leer ist oder soeben das letzte Bier aus dem Kühlschrank genommen wurde. Der nächste Besuch bei Aldi geht dann ruckzuck und es wurden wieder ein paar Minuten Lebenszeit gespart. Ganz fortschrittliche Genossen nutzen sogar gleich die Edeka-App und überlassen es dem Lieferdienst, die Lücken im Kühlschrank wieder aufzufüllen.
Kritischer wird es schon, wenn Optimierung auch das Zwischenmenschliche bestimmt. Was früher mit einem geheimnisvollen Flirt begann, ist heute der Faktencheck im Dating-Portal. Sie informiert über ihre technischen Daten und listet die Features auf, die sie zum Objekt männlicher Begierde machen. Er punktet vor allem mit Wirtschaftsdaten und verweist auf das, was er im Leben schon erreicht hat. Damit die Vermarktung klappt, hat man natürlich einen Profi-Fotografen engagiert. Kommt es zu einer übereinstimmenden Interessenlage, dann schaltet sie ihm die Nacktfotos frei.
Schließlich ist das Leben kurz und wer will schon wertvolle Zeit investieren, um sich mit dem Falschen einzulassen.
Gegenstände nehmen im Leben des Homo Economicus eine ganz besondere Stellung ein (um wieder zum Eingangsthema zurückzukommen). Sie werden nicht einfach an Funktion und Nutzen gemessen, sondern sind Teil dessen, was man als Life Style bezeichnet. Sie werden zum Ausdruckt persönlicher Individualität, auch wenn das einzig individuelle daran die bewusste Wahl der richtigen Marke ist. Besonders Stadtneurotiker nutzen Marken gerne als Orientierungshilfen. Da ist der schnelle Porsche ganz wichtig, auch wenn er eigentlich nur für den kleinen Nahverkehr genutzt wird. Seine eigentliche Funktion heißt nicht Fortbewegung. Er dient vor allem dazu, auf dem Weg vom Date zum Bett die richtigen Illusionen in ihrem Kopf entstehen zu lassen.
Wobei es vor allem Männer sind, die sich mit technischem Spielzeug verbunden fühlen. Frauen haben eher eine innige Beziehung zu dem, was ihre äußere Hülle ausmacht. Und sie können sich selten vom Inhalt ihres Kleiderschrankes trennen, auch wenn dieses hinreißende Sommerkleid längst nicht mehr passt und dieses sündhaft teure Outfit hoffnungslos oldschool ist. Da wird es echt schwer, Marie Kondos Rat zu folgen und sich von allem zu trennen, was keine Freude mehr bringt, keinen Nutzen mehr hat und an dem keine Emotionen mehr hängen. Das funktioniert vielleicht beim Bügeleisen, aber bei dem einen oder anderen Kleid besteht doch zumindest die Hoffnung, dass es eines Tages wieder passt. Und Emotionen hängen auch dran, denn genau damit hat sie ihn beim ersten gemeinsamen Dinner verzaubert. Glaubt sie zumindest.
Als ich noch verheiratet war, füllte der Kleiderschrank meiner Frau eine ganze Wand aus. Meine Klamotten waren ausgelagert und meine Kleiderstange war gerade mal einen Meter lang. Die Trennung war Anlass für einen Umzug und eigentlich ein idealer Anlass, um gründlich auszumisten. Mein überschüssiger Kram landete im Container. Ihrer wurde sorgfältig verpackt. Es gibt eben Sammlertypen und Wegwerftypen und beide kommen nur selten miteinander aus. Genauso, wie auf Dauer wohl kaum funktionieren wird, wenn sich die kleine Chaotin auf den großen Ordnungsfanatiker einlässt.
Vor dem Wegwerfen kommt das Kaufen. Wer hier in Marken und Statussymbolen denkt, gibt normalerweise irrsinnig viel Geld aus und wird an dem wertvollen Gegenstand entsprechend hängen. Das Kleid mit Designerlabel wird Teil des eigenen ichs. Das Auto mit dem Stern unterstützt das eigene Ego. Eine Trennung kann da richtig schmerzhaft sein.
Sammlertypen sind eigentlich Neurotiker. Gemeint sind dabei nicht die Sammler, die einfach Freude daran haben, seltene Uhren, Bilder, alte Schallplatten oder auch Autos ihr eigen zu nennen. Die sind vielleicht etwas schrullig, aber ansonsten völlig problemlos. Problembehaftet sind die Zeitgenossen, die sich einfach von nichts trennen können. Der alte Fernseher wartet im Keller auf eine ungewisse Zukunft. Omas Truhe ist viel zu schade zum Wegwerfen. Und der ausgemusterte Computer funktioniert ja eigentlich noch.
Für solche Leute wird Besitz zum Ballast. Irgendwann können sie sich vor lauter Krimskrams in der Wohnung nicht mehr richtig bewegen. Allein das Staubwischen ist eine Aufgabe für ein ganzes Wochenende. Ich befürchte allerdings, dass hier auch eine Frau Kondo nicht mehr helfen kann. Denn hier helfen weder Trennungsrituale noch logische Überlegungen. Hier ist der Psychiater gefragt. Denn wer sich von nichts trennen kann, ist irgendwie falsch verdrahtet und die Ursachen liegen ganz woanders.
Denn das eigene Leben vereinfachen und unnötigen Ballast aus dem Haus schaffen ist eine Frage der Philosophie. Und es ist ein Spiegel der inneren Person. Wenn sich der Schreibtisch unter Papierstapeln biegt, ist das schlicht und einfach Unordnung oder Chaos. Aber es hat nichts mit Kreativität zu tun. Denn kreative Menschen haben kein Durcheinander im Kopf, sondern die Fähigkeit, Bekanntes mit Neuem zu verknüpfen, gewohnte Denkpfade zu verlassen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, Vertrautes in Frage zu stellen und etwas hervorzubringen, was es so noch nicht gegeben hat. Dafür muss der Kopf frei sein und der Geist muss sich öffnen können und neue Sichtweisen erkennen.
Anders gesagt, das „kreative Chaos“ gibt es nicht. Es ist nicht mehr als eine Ausrede für die Unfähigkeit, Ordnung und Struktur in das eigene Leben zu bringen.
Kreative Menschen sind entweder Künstler und leben glücklich in Armut. Oder es sind Macher, die etwas bewegen und mit etwas Glück dabei steinreich werden. Sie brauchen keine Erinnerungen an die Vergangenheit, denn ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet. Sie denken nicht an das Alte, sondern erschaffen Neues. Sie müssen sich nicht von Gegenständen „verabschieden“, wie es Kondo empfiehlt, sondern entsorgen einfach, was sie nicht mehr benutzen.
„Aufräumen“ muss daher im Kopf anfangen. Denn die allmähliche Vermüllung der eigenen Umgebung lässt auf Menschen schließen, die auch im Kopf viel auszumisten hätten. Wer sein Leben an materiellen Dingen festmacht, wird sich auch schwer damit tun, sich davon zu trennen. Wer die Scheinwelt der Marken braucht, um das zu sein, was er gerne sein möchte, ist ein angepasster Mitläufer und kein kreativer Selbstdenker. Deshalb braucht er auch Statussymbole, um soziale Anerkennung zu finden. Er sucht den glamourösen Schein, weil hinter der Fassade einfach nur Durchschnitt ist.
Das Problem liegt also im Kopf und sichtbare Ordnung ist Zeichen eines aufgeräumten Geistes.