Kein Strom und du bist tot

Strom kommt aus der Steckdose. Das war schon immer so. Darüber redet man nicht. Das ist einfach eine Selbstverständlichkeit, ohne die unser Leben nicht mehr vorstellbar ist. Dass es immer mehr Menschen gibt, die ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können, nimmt man nur am Rande wahr. Weil niemand eine Vorstellung davon hat, was es wirklich bedeutet, in unserer Gesellschaft ohne Strom zu sein.


Ich habe es erlebt und es hat meinen Blick auf diese scheinbar ganz selbstverständliche Energiequelle gründlich verändert. Die Geschichte dahinter ist so verrückt, dass man sie sich eigentlich kaum vorstellen kann. Aber der Reihe nach:

Vor gut zwei Jahren habe ich das Haus, in dem ich viele Jahre gelebt habe, aufgegeben. Es war mir nach einer Scheidung einfach zu mnühsam, mich um tausend Dinge kümmern zu müssen, nur um wohnen zu können. Ich war nun Single und wollte einfach nur noch eine schicke kleine Wohnung, die wenig Arbeit macht und alles hat, was man zum Leben braucht. Eigentum wollte ich mir nicht mehr anschaffen, denn ich war mir alles andere als sicher, wie sich mein Leben weiterentwickeln würde. Und so kam es, dass ich mir eine komfortable Dreizimmer-Wohnung mietete.

Die Wohnung hatte einer alten Dame gehört, die im biblischen Alter von 105 Jahren verstorben war. Sie hatte sie einer Augenklinik vermacht, der sie offensichtlich viel zu verdanken hatte. Dort war eine Sekretärin für die ganze Sache zuständig und sollte sich um die Vermietung der Wohnung kümmern, also einen Mieter finden und die nötigen Papiere fertigmachen. Doch die hatte von Vermietung genauso wenig Ahnung hatte wie ich als Mieter. Eine Kombination an Umständen, die sich als verhängnisvoll herausstellen sollte.

Dass man sich als Mieter bei den Stadtwerken anmelden musste, um Strom zu bekommen, hatte mir keiner gesagt. Also zahlte ich brav jeden Monat meine Miete plus einen Betrag, den man Nebenkosten nannte. Woraus die sich zusammensetzten, stand im Mietvertrag und hat mich eigentlich nicht wirklich interessiert.

Gut zwei Jahre lebte ich in meiner neuen Wohnung. Ich lernte die Gegend kennen, fand eine neue Lebenspartnerin und fühlte mich eigentlich ganz gut in meiner neuen Lebenssituation.

Bis eines Morgens das Internet ausfiel. Ich hatte es mir mit meinem Frühstückskaffee im Sessel bequem gemacht und war gerade dabei, meine eMails zu checken und nachzusehen, ob noch etwas auf dem Konto ist, als mir mein Notebook signalisierte, dass die WiFi-Verbindung unterbrochen war.

Ich ging zum Router, um nachzusehen, ob da alle Lämpchen brannten. Nein. Das taten sie nicht. Es brannte überhaupt kein Lämpchen. Genauso, wie keine einzige Lampe in der Wohnung funktionierte. Stromausfall, dachte ich zunächst. Seltsam war nur, dass das Licht im Treppenhaus funktionierte. Also rief ich die besagte Sekretärin in der Klinik an und fragte sie, an wen man sich denn wenden müsse, wenn der Strom ausgefallen ist. Sie versprach, mit dem Hausverwalter zu telefonieren und ich wartete. Schön, dass mein Handy aufgeladen war, denn ohne Strom funktionierte natürlich auch meine Telefonanlage nicht.

Wenige Minuten später ging es weiter:

"Also der Hausverwalter weiß nichts von einem Stromausfall. Haben Sie denn Ihre Stromrechnung bezahlt?"

"Stromrechnung? Wie jetzt? Ich dachte, das ist in den Nebenkosten drin. Immerhin wohne ich jetzt schon zwei Jahre hier und es hat noch niemand Geld für Strom von mir gewollt. Eine Nebenkosten-Abrechnung habe ich übrigens auch noch keine gesehen."

"Also ich kenne mich da auch nicht so aus. Ich weiß auch gar nicht, ob wie die Frau Klinke damals bei den Stadtwerken abgemeldet haben. Haben Sie sich denn angemeldet?"

"Nein. Hätte ich das müssen? Also ich kenne mich da genauso wenig aus. Ich habe mein Leben lang im eigenen Haus gelebt und miete zume rsten Mal eine Wohnung. Wo muss man sich denn da an- und abmelden muss. Ich hab wirklich keine Ahnung."

"Also, dann sollten sie vielleicht mal mit den Stadtwerken reden."

Das tat ich dann auch. Nicht telefonisch, denn da hat man es ohnehin nur mit einer Dame im Callcenter zu tun, sondern direkt vor Ort. Ich beschrieb meine Situation und wurde in die Abteilung "Forderungsmanagement" verwiesen. Dort war ich natürlich unbekannt. Mein Name stand schlicht und einfach nicht im Computer. Wie auch, ich hatte mich schließlich nie angemeldet. Aber eine Frau Klinke, ja die gab es. Bei der würden aber seit zwei Jahren die monatlichen Abbuchungen nicht mehr funktionieren. Wie auch, Tote haben normalerweise kein Bankkonto und wenn, dann ist es irgendwann leer.

"Sie müssten unzählige Schreiben von uns bekommen haben," meinte der recht freundliche Mann und schien auch vor einem Rätsel zu stehen. Mich wunderte allerdings auch, dass die Stadtwerke zwei Jahre lang alle Mahnungen mit dem Vermerk "Empfänger unbekannt" zurück bekommen hatten, um erst jetzt endlich auf die säumige Zahlerin zu reagieren. Aber so war es eben.

"Wie denn. Am Briefkasten steht seit zwei Jahren Wolf. Da wird der Briefträger kaum Briefe an eine Fran Linke einwerfen."

"Ach ja, jetzt sehe ich es. Bei Ihnen wurde heute morgen der Strom abgestellt."

"Deswegen bin ich ja hier. Ich hätte nämlich gerne, dass der wieder fließt. Meine Computer laufen nämlich sonst nicht. Telefonieren geht auch nicht. Vom Internet ganz zu schweigen. Und wie lange es meine Lebensmittel im Kühlschrank aushalten, ohne lebendig zu werden, weiß ich auch nicht."

Um es kurz zu machen: ich habe noch am selben Tag über tausend Euro an überfälligen Stromkosten nachbezahlt und wenige Stunden später leuchteten die Lämpchen am Router wieder auf. Jetzt bin ich ganz offiziell als Kunde der Stadtwerke Lübeck registriert und wieder Teil der menschlichen Gesellschaft.

Für mich war es eine Lektion darüber, wie abhängig wir alle von etwas sind, das wir als ganz selbstverständlich nehmen und ohne das unser gesamtes Leben zum Stillstand kommen würde. Über Strom habe ich nie nachgedacht. Der kam ja aus der Steckdose. Ganz selbstverständlich. Tag und Nacht.